Newsletter Nr. 21





Liebe Leser,

in den letzten Wochen ist es ruhiger um mich geworden. Nicht aus dem Grund, dass es nichts zu erzählen oder zu schreiben gäbe – im Gegenteil, ich hatte so viel zu tun, verbunden mit viel Frust, dass ich weder Zeit noch Motivation dazu gefunden habe. Mein Job bei World Hope nimmt mich sehr in Anspruch, so etwas wie geregelte Arbeitszeiten gibt es nicht. Die Tage sind lang, ich arbeite oft an Wochenenden und komme dadurch kaum zu etwas anderem.

In der letzten Woche gab es jedoch ein Ereignis, dass mich sehr aufgerüttelt hat. Meine Nachbarin Mariama ist im Alter von nur 24 Jahren am Montag sehr plötzlich verstorben. Sie war krank und wir wussten, dass sie wahrscheinlich nicht mehr allzu viel Lebenszeit vor sich hatte, doch niemand hatte damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ihre Geschichte berührt mich so, weil ich wahrscheinlich die letzte war, mit der sie vor ihrem Tod noch länger gesprochen hat und ich wünschte mir, dass ich länger für sie da gewesen wäre, mir mehr Zeit für sie genommen und ihrer Angst und Einsamkeit weniger Raum gegeben hätte. Etwas nicht mehr sagen oder tun zu können, was ich durchaus hätte sagen oder tun können, ist eine schmerzliche Lektion und hat mich aus dem unproduktiven Ärger, den ich in den letzten Wochen viel empfunden habe, gerissen. Und ihre Geschichte wird mich nicht loslassen, weil es zu viele Mariamas in Sierra Leone gibt.

Mariama wuchs als eines von vielen Mädchen in einer großen muslimischen Familie auf. Sie hatte nicht das Privileg, eine Schule zu besuchen und musste schon als junges Mädchen viel zu Hause und in der Landwirtschaft mithelfen. Sie erwartete ein unspektakuläres Leben in mehr oder weniger armen Verhältnissen als Hausfrau und Mutter ohne Einflussmöglichkeiten oder Entscheidungsgewalt. Ihr Leben nahm eine negative Wende als sie vor zwei Jahren ungewollt von ihrem Freund schwanger wurde und ihre Familie sie verstieß, als sie davon erfuhr. Ihr Freund verließ sie nachdem er sie, wie sie erst vor einigen Monaten herausfand, auch noch mit HIV angesteckt hatte. Mariama versuchte eine Unterkunft bei Freunden zu finden, aber durfte nirgendwo länger als auch nur eine Woche bleiben - zu teuer, eine zusätzliche Person durchzufüttern. Sie reiste durchs ganze Land und landete schließlich in Makeni. Als das Ebolavirus im Mai 2014 in Sierra Leone ausbrach, hatte sie bereits sämtliche Kontakte abgegrast und lebte nun mit ihrem drei Monate alten Sohn auf der Straße. Manchmal durfte sie jemanden beim Kochen helfen und bekam dafür etwas zu essen, oft bettelte sie und hoffte auf eine Mahlzeit am Tag. Als sie Ende 2014 Fieber bekam und offensichtlich krank war, fiel sie der Polizei auf und wurde in ein Isolationszentrum gebracht, wo ihr Blut auf Ebola getestet wurde. Ebola hatte sie nicht, aber ihr wurde mitgeteilt, dass sie Aids habe. Patienten dürfen nicht länger als 36 Stunden in einem Isolationszentrum bleiben, nur so lange, bis feststeht, ob jemand Ebola hat oder nicht. Positive Patienten werden in ein spezielles Ebola-Behandlungszentrum verlegt, negative werden entlassen oder an ein anderes Krankenhaus verwiesen. Mittlerweile haben viele Krankenhäuser wieder eröffnet, im letzten Jahr war es noch ganz anders und Mariama wurde nur mit einem Schmerzmedikament in der Hand wieder auf die Straße entlassen. Eine amerikanische Mitarbeiterin in dem Isolationszentrum wurde jedoch auf sie aufmerksam, suchte sie auf der Straße, mietete ihr ein Zimmer in unserer Nachbarschaft an und kümmerte sich ein wenig um sie. Als ihr Vertrag kurz darauf endete, verließ sie das Land und hinterließ meiner Mitbewohnerin Carrie Geld, um sie weiterhin mit allem Notwendigen zu versorgen. Über Carrie habe ich Mariama kennengelernt.

Wir haben uns reihum ein wenig um sie gekümmert, doch wir haben alle zeitintensive Jobs und Mariama, ihre Bedürfnisse, ihre Sorge um das Wohlergehen ihres Kindes und ihre Einsamkeit sind zu oft im Alltag untergegangen.

Als sie mich am Sonntagabend mit starken Bauchschmerzen besuchte, eigentlich wollte sie zu Carrie, die Krankenschwester ist, war sie sehr unruhig und wollte wissen, was mit ihrem Sohn passiere, wenn sie stürbe. Er dürfe auf keinen Fall zu ihrer Familie. Ich konnte ihr nichts dazu sagen und nach einigen erfolglosen Versuchen, meinen Arztkollegen zu erreichen, schickte ich sie mit einem Medikament von mir wieder nach Hause. Mein Kollege versprach, sich gleich am nächsten Morgen um sie zu kümmern und ins Krankenhaus zu bringen. Eine andere Kollegin stand auch mit ihr in Kontakt, Mariama hatte mehrmals versucht, sie telefonisch am Wochenende zu erreichen und sie wollte sich Anfang der Woche mit ihr treffen. Am Montag war so viel zu tun, dass wir alle drei Mariama vergessen haben, am frühen Abend erreichte uns die Nachricht ihres Todes. Die Nachbarn hatten sie gefunden.

Weil es immer noch Fälle von Ebola in Sierra Leone gibt und die Ansteckungsgefahr durch die Berührung von Toten und Kranken am höchsten ist, werden weiterhin alle Toten durch die Beerdigungsteams in Schutzanzügen abgeholt und zentral beerdigt. Es war für mich das erste Mal, es mitzuerleben und ich war beeindruckt, wie professionell und dennoch sensibel das Beerdigungsteam agiert hat. Vier Männer Anfang bis Mitte Zwanzig, die die aufgebrachte Situation am Haus unter Kontrolle brachten und all diejenigen beruhigten, die Angst vor den Schutzanzügen hatten. Niemand von Mariamas Familie wollte kommen, niemand brachte ein weißes Tuch, in das Tote traditionell, bevor sie im Leichensack verschlossen werden eingewickelt werden, draußen wurde noch kurz für sie gebetet und dann war sie weg.

Leider gibt es so viele vergessene Menschen wie Mariama hier in Sierra Leone, vor allem Frauen leiden häufig unter den gesellschaftlichen Strukturen, den mangelnden Bildungseinrichtungen, dem schlechten Gesundheitssystem. Träume hatte Mariama keine, sie war so sehr mit dem Überlebenskampf beschäftigt, dass sie keine Energie darauf verschwendete, sich Illusionen hinzugeben, von denen sie wusste, dass sie niemals Wirklichkeit würden. Ich weiß, dass ich nie alle Mariamas in dem Maße unterstützen kann, wie ich es wünsche, aber ihr Tod hat mich aus dem Trott gerissen. Denn auch wenn man tagtäglich Elend sieht, kann man dafür (zumindest teilweise) blind werden.


Auf dass wir in dieser Woche unsere Chancen und Möglichkeiten, für andere da zu sein, nutzen – Hanna


P.S.: In der nächsten Mail gibt es ein Update von unserer Schule und vom Projekt. Ich mache mir viele Gedanken dazu, aber es fehlt mir an Ruhe und Zeit, sie zu Ende zu denken und aufzuschreiben – vielen Dank für eure Geduld.