aus Sierra Leone gibt es immer so viele negative und dramatische Geschichten zu berichten, deshalb möchte ich euch heute von meinen schönen Erlebnissen am letzten Wochenende berichten.
Am letzten Wochenende haben meine Mitbewohnerin Jaimie und ich einen Ausflug in die Kleinstadt Kabala im Landesinneren von Sierra Leone gemacht (fünf Stunden Autofahrt von der Hauptstadt entfernt). Die Stadt ist immer einige Grade kühler als der Rest des Landes, weil sie etwas höher liegt und von Bergen umrundet ist. Es gibt dort weder Strom noch fließendes Wasser, doch für ein Wochenende, wenn ich nicht arbeiten muss und Deadlines einhalten muss, kann es ganz angenehm sein.
Anonymität wie sie in Deutschland und vielen anderen Ländern gewollt ist, wird in Sierra Leone verabscheut. Es wird nicht gerne gesehen, wenn man als Fremder irgendwo auftaucht, sich nicht vorstellt und einfach einen Berg besteigt, so wie Jaimie und ich es vorhatten. Aber wo stellt man sich vor, wen man fragt man um Erlaubnis?
Sierra Leone ist eine demokratische Republik, aber neben den gewählten Volksvertretern existiert das ursprüngliche System der Chiefdoms weiter. Sierra Leone ist in 149 Chiefdoms unterteilt, in jedem Chiefdom herrscht ein Paramount Chief. Die Paramount Chiefs haben in der Vergangenheit die Rolle der Behörden übernommen und waren Richter, Minister, Steuerbehörde usw. in einer Person, unterstützt von ihnen untergeordneten Section Chiefs und Town Chiefs. Auch wenn ihr Zuständigkeitsbereich stark beschnitten wurde, sind sie immer noch sehr einflussreich und die Bevölkerung fühlt sich oft stärker mit ihnen verbunden als mit den Politikern, die häufig nicht einmal aus ihrem Wahlkreis stammen. (Anmerkung: Während der Ebolaepidemie wurden die Chiefs zunächst völlig außen vorgelassen, erst als man sie miteinbezog und sie als Botschafter in ihre Chiefdoms entsandte, sanken die Fallzahlen drastisch. Die Chiefs sprechen meist mehrere Stammessprachen und genießen hohen Respekt in allen Gesellschaftsschichten, ihrem Rat haben die Sierra Leoner mehr vertraut als dem der oft als korrupt bekannten Politiker und der Helfer aus dem Ausland.) Die Chiefs sind Monarchen, der Thron wird innerhalb der Familie weitergegeben, aber nicht unbedingt an den Erstgeborenen, auch ein Onkel oder ein Cousin kann die Thronfolge antreten, wenn ein Chief verstirbt. Die Bewerber für den Posten des Chiefs führen einen Wahlkampf durch und der Rat der Chiefs entscheidet, wer der neue Chief wird. Jeder Bewerber muss sich vor dem Wahlkampf mit den Anforderungen an das Amt mit einem Mentor auseinandersetzen. Die Paramount Chiefs sind seit einigen Jahren auch externe Mitglieder des Parlaments und haben somit politische Einflussmöglichkeiten.
Beim lokalen Paramount Chief wollten wir uns also vorstellen. Da ich wusste, dass einer meiner Kollegen der Cousin des jetzigen Paramount Chiefs und der Sohn des vorigen ist, habe ich ihn nach den Kontaktdaten des Chiefs gefragt. Spontan hat er sich entschlossen mitzukommen und durch seine enge Verbindung zur Chieffamilie wurden Jaimie und ich königlich behandelt. Wir bekamen massenhaft gutes Essen vorgesetzt, für unsere Bergbesteigung wurde uns eine Begleitung zur Seite gestellt, die unser Wasser getragen hat, und wir hatten zwei kurze Privataudienzen nur mit dem Chief. Es war ein wirklich tolles Erlebnis! Mit dem Chief möchte ich aber nicht tauschen, es wird erwartet, dass sein Haus immer offen ist und seine Sprechzeiten reichen von den frühen Morgenstunden bis zum Abend, zwischendurch ist er dann immer wieder bei irgendwelchen Meetings, muss Reden halten und schlichtet Streitigkeiten.
Durch meine Arbeit bei World Hope hatte ich schon einige Paramount Chiefs kennengelernt, sie waren allesamt sehr gebildet (einer sprach sogar fließend Deutsch, da er einen Diplomstudiengang in Deutschland besucht hatte) und sie haben mich durch ihr verantwortungsvolles Handeln beeindruckt. Ich will das positive Bild der Chiefs nicht überzeichnen, ich habe nur einen kleinen Teil oberflächlich kennengelernt und wie überall wird es auch unter den Chiefs schwarze Schafe geben. Meine bisherigen Erlebnisse waren jedoch positiv und ganz anders als das in den Medien transportierte Bild der machtsüchtigen, afrikanischen Herrscher, denen es nur um ihr eigenes Wohlergehen geht.
Mit vielen Grüßen aus Freetown,
Hanna
P.S. Eine schlechte Nachricht gibt es aber leider doch: Der Mann, von dessen Blinddarmentzündung ich euch im letzten Newsletter erzählt habe, ist leider in der letzten Woche unerwartet verstorben, vermutlich in Folge einer Embolie oder einer bakteriellen Entzündung. Leider wird das die Ängste der Bevölkerung vor Operationen noch weiter befeuern, obwohl der Kollege ohne die OP mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gestorben wäre.