auch wenn ich nicht mehr in Sierra Leone bin, gibt es heute ein aktuelles Update!
Kurz nachdem ich Mitte März aus Sierre Leone abgereist bin, brach im Nachbarstaat Guinea das Ebola-Virus aus, das hohes Fieber und innere Blutungen bei den Betroffenen zur Folge hat. Da es keine Impfungen oder entsprechende Medikamente gibt, sind bisher schon mehr als 80 Prozent der Infizierten an der Krankheit gestorben. Anders als bei Grippeviren zum Beispiel sind die Ebolaviren nicht in der Luft, sondern werden nur durch direkten Körperkontakt mit infizierten Menschen oder Tieren ausgelöst. Dennoch breitet es sich immer weiter in Guinea aus, auch in Liberia gab es schon einige Todesfälle und in Sierra Leone fürchtet man sich vor dem weiteren Ausbreiten des Virus. Es gab auch schon Todesfälle unter den Sierra Leonern, die Opfer waren aber alle zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs in Guinea. Bisher gibt es offiziell keine Infizierten im Land Sierra Leone. Die Grenze zu Guinea wurde vorübergehend geschlossen, das Gesundheitsministerium informiert die Bürger per Radio und SMS über Vorbeugungsmaßnahmen - doch meine Ärzte-/Krankenpfleger-Freunde vor Ort haben mir gesagt, dass Sierra Leone nicht ausreichend vorbereitet ist, sollte das Virus sich weiter ausbreiten. Es gäbe zu wenig gut ausgebildete Pflegekräfte und Ärzte, keine Qurantäne- oder Isolationsräume, nicht ausreichend Schutzkleidung für das Pflegepersonal, keine adäquate medizinische Versorgung für die Opfer und viel Unverständnis in der Bevölkerung über die Vorbeugungsmaßnahmen (was nützen SMS wenn die Analphabetenrate so hoch ist?).
Leider ist Sierra Leone nicht nur auf die akute Bedrohung schlecht eingestellt – auch im Alltag funktioniert das Gesundheitssystem nur unzureichend. „Health is wealth“ (Gesundheit ist Wohlstand) – dieser Spruch fällt mir immer wieder auf. Die Leute schreiben ihn auf ihre Shops, auf ihre Taxis, an ihre Hauswände. Wie wahr, habe ich schon oft gedacht. Denn in Sierra Leone begegnet man jeden Tag unfassbar traurigen Geschichten. Da ich bei meinem letzten Aufenthalt bei einer Krankenschwester und einer Physiotherapeutin gewohnt habe und auch selbst in Krankenhäusern unterwegs war, habe ich einige neue Einblicke bekommen und anhand von drei Beispielen möchte ich exemplarisch die Probleme Sierra Leones zeigen. Die Beispiele sind alle wahre Begebenheiten.
Deborah ist sechs Jahre als ihr Onkel sie zum ersten Mal zum Arzt bringt. Sie wohnen eine Tagesreise vom nächsten Krankenhaus entfernt und der Onkel konnte es sich in den letzten Jahren nicht leisten, seine Nichte zum Arzt zu bringen. Ihr Gesicht ist völlig deformiert, sie spricht nicht, sie ist blind, ihre Augen sind stark entzündet. Ihre Mutter hat sie als Baby dem Onkel eines Nachts vor die Tür gelegt, sie könne ihren Anblick nicht mehr ertragen, sie sei ein Teufel. Deborah hat Glück, Onkel und Tante nehmen sie auf und kümmern sich um sie. Ich lernte sie kennen als ich Dr. Paul aus England für einen Tag begleite. Der Onkel möchte wissen, ob man ihr entstelltes Gesicht heilen könne. Doch leider kann man ihre Entstellungen nicht behandeln – zumindest nicht in Sierra Leone. „In Europa wäre es nie zu diesen Auswüchsen gekommen,“ sagt Dr. Paul mir später, „und auch jetzt gäbe es für sie in anderen Ländern noch Hoffnung. Doch in Sierra Leone können wir vieles nicht behandeln, weil wir die Möglichkeiten und Ausrüstung nicht dazu haben.“ Dr. Paul behandelt Deborahs Augen und entlässt sie mit der Bitte, keinen Medizinmann oder traditionellen Heiler aufzusuchen. Auch die traditionelle Medizin könne ihr nicht helfen. Bei jedem Patienten, den wir an diesem Tag sehen, wiederholt er diesen Appell.
Zu Recht – denn die Heilungsmethoden der traditionellen Heiler sind meist kontraproduktiv, wie Krankenschwester Jaimie mir erzählt. Als Säugling erkrankte ihr Patient Sorie an einer Hirnhautentzündung und litt seitdem an einer motorischen Behinderung. Davon abgesehen war er ein fröhliches und aktives Kind. Sie besuchte die Eltern regelmäßig zu Hause und zeigte ihnen, wie sie Sorie am besten pflegten und förderten. Als sie im Januar wieder zu einem Besuch vorbeikam, war Sorie nicht da. Er sei gestorben, sagte die Mutter. „Woran denn?“ fragte Jaimie. Er habe sich in eine Schlange verwandelt, sie hätten ihn töten müssen, sagt die Mutter. Da Jaimies Methoden keine Besserung gebracht hätten, brachten die Eltern ihren zweijährigen Sohn zum Medizinmann. Der stellte fest, dass das Kind sich in eine bösartige Schlange verwandelt habe und den Eltern Unglück bringen würde. Er müsse getötet werden... Leider habe ich solch eine Geschichte nicht zum ersten Mal gehört, denn viele Sierra Leoner haben großes Vertrauen in die Diagnosen und Behandlungen der traditionellen Heiler.
Eigentlich waren Jaimie und Mariama verabredet, doch die eigentlich immer pünktliche Mariama kam nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Nach einer Stunde machte sich Jaimie besorgt auf den Weg zu Mariamas Haus. Sie lag sich vor Schmerzen krümmend auf dem Boden. Jaimie vermutet eine Blinddarmentzündung, also los ins Krankenhaus. Doch welches Krankenhaus hat momentan Strom und könnte demnach eine Operation durchführen? Sie ruft die Krankenhäuser an, zwei in der Nähe haben Strom und Narkosemittel. Doch kann man den Ärzten trauen? Jaimie lässt sich die Namen der Ärzte im Dienst geben und ruft befreundete Ärzte an. „Geh auf keinen Fall zu Arzt X, seine Eltern sind sehr reich und haben ihm den Doktortitel gekauft. Er hat keine Ahnung von seinem Job und ständig sterben die Leute in seinen OPs,“ sagt eine Ärztin aus den Niederlanden. Schließlich findet Jaimie einen Arzt, der seinen Abschluss auf legale Weise gemacht haben und ganz gut sein soll. Der Arzt in der Notfallaufnahme will sie wieder wegschicken, die junge Frau habe nur Menstruationsbeschwerden, doch Jaimie besteht darauf, dass Arzt Y Mariama untersucht und operiert. Er leitet auch sofort die OP ein und zwei Wochen später geht es Mariama wieder gut. Von einem „kleinen“ Zwischenfall erfährt Jaimie nach der OP: Die Überwachungsmaschine sei auf einmal ausgegangen, der Arzt dachte schon, das Gerät sei kaputt. Doch „zum Glück“ hatte nur eine Krankenschwester kurz den Stecker herausgezogen, um ihr Handy zu laden...
Die Probleme im Gesundheitswesen in Sierra Leone sind gewaltig, vor allem weil es so viele verschiedene Ursachen gibt, die sich gegenseitig bedingen und/oder verstärken: Es fehlt an Aufklärung und Wissen, vor allem in den sehr armen Bevölkerungsschichten. Doch es fehlt vielen auch das Bewusstsein dafür, hygienische Maßnahmen einzuhalten und Gefahren richtig einzuschätzen. Bei der Cholera-Epidemie vor knapp zwei Jahren wurden zum Beispiel Seife, Desinfektionsmittel und Medikamente gegen Durchfall großflächig verteilt und den Menschen erklärt, wie sich die Cholera verbreitet und sie eine Ansteckung vermeiden können. An den Tagen danach gab es ein Überangebot an Seife und Desinfektionsmittel auf dem Markt und da sich viele an keinerlei Hygienevorschriften hielten, konnte die Verbreitung der Krankheit über Wochen nicht eingedämmt werden. Es fehlt an gut ausgebildeten Ärzten und Krankenschwestern, die sich wirklich für die Bedürfnisse ihrer Patienten interessieren. Es fehlt der Bevölkerung an Vertrauen in die Medizin und in die Ärzte. Es fehlt an Krankenhäusern und adäquater Ausrüstung. Deshalb hoffen wir, dass das Ebolavirus sich nicht in Sierra Leone verbreitet. Und dass es in den nächsten Jahren weiter bergauf geht. Denn auch wenn die Situation erschreckend ist, es hat sich seit Kriegsende schon vieles verändert und verbessert.
Herzliche Grüße
Hanna