Newsletter Nr. 6





Liebe Leser,

in meiner letzten Email schrieb ich über das gefährliche Ebola-Virus, das sich in Sierra Leones Nachbarstaat Guinea ausgebreitet hat. Mittlerweile gibt es auch einige Todesfälle und weitere Infizierte in Sierra Leone. Wir hoffen, dass die Quarantänestationen in den Krankenhäusern mittlerweile eingerichtet sind und die Bevölkerung weiß, wie sie sich verhalten muss (z.B. kein angebissenes Obst mit anderen teilen, da sich das Virus unter anderem durch den Speichel überträgt).

Erschwerend kommt hinzu, dass es in diesem Monat kaum Strom (nur 8 Stunden Strom in den letzten 20 Tagen) und auch Probleme mit der Wasserversorgung gab. Mittlerweile hat die Regenzeit eingesetzt, bald sollte es wieder besser werden.

Bald werden auch unsere sierra leonischen Mitarbeiter für diesen Newsletter beziehungsweise den Blog schreiben. Heute noch einmal von mir – über Korruption im Alltag.

Viel Spaß beim Lesen wünscht
Hanna



It's all about the money.

In Sierra Leone kann man sich alles erkaufen. Wirklich alles. In Sierra Leone haben die Leute nur wissend gelächelt, als ich ihnen von einigen Korruptionsskandalen in Europa erzählt habe. Hier eine kleine Sammlung von Alltagsgeschichten.

Bestechung an den Schulen und Unis ist Tagesgeschäft. Die meisten Lehrenden verdienen nicht besonders gut, also bessern sie ihr Gehalt anderweitig auf. Natürlich gibt es keine offiziellen Zahlen, wie viele Leute sich ihren Abschluss oder ihren Eintritt in die nächsthöhere Klasse erkauft haben, aber es sind viele. Man munkelt, dass vor allem unter Medizinern und Juristen mindestens ein Drittel sich ihren Abschluss gekauft haben. In diesen Berufen verdient man gut und so leihen sich schlechte Studenten massenhaft Geld von ihren Freunden, Bekannten etc oder sie lassen ihre reichen Eltern zahlen. Problematisch wird es dann, wenn man mit diesen Scharlatanen zu tun hat. Auch deshalb gehen viele Sierra Leonern nur ungern zum Arzt.

Eine andere Geschichte erzählte mir ein Freund, der vor einigen Monaten eine neue Lehrstelle angenommen hat und im Januar die ersten Prüfungen beaufsichtigen musste. Vor Beginn der Klassenarbeit teilte der Schulleiter meinem Freund mit, dass ein gewisses Mädchen die ganze Zeit ihr Buch benutzen dürfe und dass sie auf jeden Fall bestehen müsse. Als mein Freund widersprach, setzte der Schulleiter ihn vor die Wahl: Entweder du machst es oder du bist gefeuert. Mein Freund hat eine sehr clevere Lösung für das Problem gefunden, denn er hat allen Schülern erlaubt, ihre Bücher und Unterlagen während der Klassenarbeit zu benutzen und alle bestehen lassen.

Natürlich kann man sich auch seine Freiheit erkaufen. In diesem Jahr zum Beispiel (vielleicht auch schon in den Jahren zuvor) hatte der Chef der Gelddruckerei die großartige Idee, es wäre Zeitverschwendung, die Druckmaschinen nur an sechs Tagen der Woche laufen zu lassen. Also druckte er sonntags kofferweise Geld für sich und seine Familie. Im Februar wurde er dabei erwischt, als er die Geldkoffer in seinen Van verlud. Er gab alles sofort zu (natürlich war es eine einmalige Angelegenheit) und bot an, eine Strafzahlung von mehreren tausend Dollar zu leisten. Die Staatsanwaltschaft erklärte sich einverstanden mit dem Deal und die Vorwürfe gegen ihn wurden fallengelassen.

Als ich bei meinem diesjährigen Aufenthalt von der im Landesinneren liegenden Stadt Makeni nur mit Einheimischen nach Freetown zurückfuhr, wurden wir vom Militär angehalten und aufgefordert, unsere Ausweise zu zeigen angesichts Terrordrohungen durch die Al-Shabab Bewegung. Keiner im Auto hatte einen Ausweis dabei und in kurzer Zeit war unser ganzes Auto umrundet von hochbewaffneten Soldaten. Die Bedrohung verschwand genauso schnell wie sie gekommen war, als der Fahrer den Soldaten umgerechnet 0,80 € gab.

Für Polizisten und Soldaten scheint es das normalste der Welt zu sein, ihr Gehalt im Straßenverkehr aufzubessern und sich an den absurdesten „Verkehrsverbrechen“ zu bereichern. Vor allem am Samstag sind sie gefürchtet: Dann nämlich nehmen sie doppelt hohe Strafgelder - Vorsorge für den arbeitsfreien Sonntag. Ein Polizist wollte meine Freundin Jaimie dieses Jahr verhaften, weil ihr Auto zu dreckig sei. Sie verstoße gegen das Gesetz, das besage, 80 % des Autolackes müsse sichtbar sein. In solch einer Situation, wenn es ganz offensichtlich nur um die Bereicherung einer „authority“ geht, muss man möglichst cool bleiben und den Polizisten wiederholt bitten, das ganze offiziell auf der Wache zu regeln und ein Protokoll aufzunehmen. Irgendwann gibt er auf.

In anderen Bereichen ist es wiederum traurig zu sehen, was man sich alles kaufen muss. Will man beispielsweise eine Anzeige machen, muss man das Formular und einen Stift auf der Polizeistation kaufen. Wenn der Polizist für seine Ermittlungen zu einem anderen Ort fahren muss, muss der Anzeigensteller die Benzinkosten übernehmen und wenn eine Frau vergewaltigt wurde, trägt sie die Kosten für Untersuchung. Vor dem Hintergrund versteht man dann besser, warum die Sierra Leoner oft Selbstjustiz üben.

Es gibt eine Antikorruptionskommission und einen Antikorruptionsminister (der vorsorglich mehr als unsere Bundeskanzlerin monatlich verdient, um ihn hoffentlich unanfechtbar zu machen), die in den letzten Jahren einige Initiativen gestartet haben. Doch das „Korruptionsgeschwür“, wie die Sierra Leoner es nennen, ist zu tief in der gesamten Gesellschaft verwurzelt, in vielen Lebensbereichen ist sie so normal geworden, dass man sie nicht mehr hinterfragt. Und diejenigen, die sich dagegen auflehnen, geraten unter Druck, wie mein Freund in bei der Prüfungsaufsicht.