Newsletter Nr. 8





Liebe Leser,

in Gesprächen und Medienberichten über den Ebola-Ausbruch in Westafrika höre ich immer wieder Unverständnis und Ratlosigkeit, wie das Virus sich weiterhin so schnell ausbreiten könne und die Menschen in vielerlei Hinsicht „beratungsresistent“ sind, was die Befolgung von Sicherheitsmaßnahmen angeht. Aus unserer Perspektive gesehen ist das durchaus nachvollziehbar, denn in Europa könnte sich das Virus mit Sicherheit nicht mit solcher Macht ausbreiten. Aber versetzen wir uns einmal in eine andere Lage.

Stell dir vor...

das laute Knurren aus deiner Magengegend lässt sich einfach nicht mehr ignorieren und erinnert dich ständig daran, dass du heute noch nichts gegessen hast. Gestern hast du einen Becher Reis mit Sauce gegessen. Vorgestern auch. Du hast all deine Essensvorräte verbraucht, zu Hause erwartet dich eine hungrige Familie: zwei Kinder und deine Mutter. Du hast Bargeld im Wert von einem Euro in der Tasche. Mehr Geld besitzt du nicht. Du stapfst durch verschlammte Straßen im strömenden Regen zum Markt. Unter großen Regenschirmen sitzen die Händler und bieten ihre Ware an. Du siehst Verkäufer, die weiße Einmalhandschuhe verkaufen. Sie kosten 0,17 € pro Paar. Du weißt, du solltest diese Handschuhe tragen, um dich vor einer Ansteckung mit dem gefährlichen Ebola-Virus zu schützen. Du solltest Handschuhe für deine Familie kaufen, vor allem für die Kinder. Sie sollen leben. Du vergräbst die Hände unter deinem Kleid und versuchst niemanden zu berühren, als du dich durch die Stände schlängelst. An einem Stand hängt ein Plakat mit kleinen Zeichnungen, das offensichtlich kranke Menschen zeigt. Man sieht viele dieser Plakate in den letzten Tagen. Die Buchstaben darauf kannst du nicht entschlüsseln, denn das Lesen hast du nie gelernt. Man hat dir erklärt, es zeige die typischen Symptome, wenn das Ebola-Virus ausbricht: Durchfall, Fieber, Gliederschmerzen, blutiges Erbrechen. Wenn du diese Symptome an dir oder deinen Kindern beobachtest, sollst du schnellstmöglich ins Krankenhaus gehen; je früher, desto besser. Die Krankheit habe schon viele Menschen das Leben gekostet und breite sich weiter in deinem Land aus. Doch du weißt nicht, was du tun würdest, wenn es dazu käme. Niemand komme lebend aus den Krankenhäusern wieder heraus, sagt man in deiner Nachbarschaft. Wer kann, macht einen weiten Bogen um Krankenhäuser und alle, die damit zu tun haben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger.

Du denkst an deine Verwandte, die in der letzten Woche gestorben ist. Einige sagen, die Weißen mit den Masken des Teufels hätten sie mit dem tödlichen Virus angesteckt. Sie kamen ins Dorf und versprühten überall eine unbekannte Flüssigkeit. Danach erkrankten und starben viele. Andere sagen, sie habe sich bei einem Dorfbewohner angesteckt und die Weißen hätten das Dorf mit ihren Sprays desinfiziert und gereinigt. Wieder andere sagen, sie habe nur an einer Malaria gelitten, man habe sie erst im Krankenhaus mit dem Virus angesteckt. Du weißt nicht, wem du glauben kannst, wer recht hat. Du wurdest in der Vergangenheit zu oft enttäuscht von korrupten Ärzten, Polizisten, Stammesältesten und von deiner Regierung, die log und alles zu ihrem eigenen Vorteil tat. Noch vor wenigen Wochen bestritten einige Politiker, dass es Ebola überhaupt gäbe; andere wiederum behaupteten, das Virus würde von den Machthabenden eingesetzt, um Wähler der Opposition gezielt auszulöschen.

Deine Verwandte, sie musste ganz alleine sterben, ganz ohne geliebte Menschen und unter vielen Fremden, die nicht ihre Muttersprache sprechen. Nicht einmal bei ihrer Beerdigung durftest du ihr die letzte Ehre erweisen. Du hast aus der Ferne gesehen, wie sie die Toten, in einen weißen Sack gehüllt, einfach in ein Loch fallen lassen. Es schmerzt dich sehr, dass du sie nicht loslassen und ihr den Respekt zollen durftest, den sie verdient hat. Niemals würdest du eins deiner Kinder ganz alleine in die Hände dieser Fremden geben und es sterben lassen. Du hast große Angst, doch das einzige, was dir bleibt, ist die Hoffnung, dass es dich und deine Familie nicht trifft. Jeden Tag betest du dafür. Du legst die Hand auf deinen Bauch. Du bist schwanger, in wenigen Wochen wird das Kind kommen. Zur Geburt wirst du nicht ins Krankenhaus gehen. Du hast zu viel Angst, du könntest dich oder dein Baby mit dem Virus infizieren. Als Kind wurdest du an den Genitalien beschnitten; bei deiner letzten Geburt hast du viel Blut verloren, doch die Ärztin konnte dich und dein Baby retten. Du hoffst, dass diesmal alles gut geht, wenn kein Arzt dir helfen kann. Dein Blick schweift hinüber zu den Marktständen, an denen man Essen kaufen kann. Dein Magen knurrt. Vor deinem inneren Augen siehst du deine beiden Kinder. Sie werden wieder weinen, wenn du nichts zu essen dabei hast. Das Geld in deiner Hand reicht für zwei Becher Reis, eine Zwiebel, etwas Salz, einen Maggiwürfel, Chili und Öl; für eine kleine Mahlzeit. Du hast im Radio gehört, dass es eine Ausgangssperre geben soll, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wie sollen wir überleben, fragst du dich, wenn du nicht wie üblich Seife verkaufen kannst, für die du im Gegenzug Nahrungsmittel kaufst? Was nützt es, wenn du dich nicht mit dem Virus ansteckst, aber verhungerst? Immer wieder gab es in den letzten Tagen Raubüberfälle von hungernden Menschen. Du bist im Krieg geboren und aufgewachsen. Die zunehmende Anspannung im Land und die Essensräuber machen dir Angst. Du fürchtest Gewalt, doch du ahnst, dass es schnell dazu kommen kann, wenn die Bevölkerung hungert. Du weißt nicht, wie es weitergeht; du zwingst dich, nur an heute zu denken. Noch einmal geht dein Blick von den Essensständen zu den Handschuhen, dann gehst du los. Wie entscheidest du dich?

Auch wenn diese Situation fiktiv ist - sie ist ein Protokoll, entstanden aus vielen Gesprächen mit verschiedenen Menschen. Sie spiegelt die Gedanken, Ängste und die Verwirrung der Westafrikaner wider und gleichzeitig die erschwerenden äußeren Umstände, die eine effektive Eindämmung der Seuche erschweren.